Palmsonntag

Jedes Jahr am jüdischen Paschafest war die Stimmung in Jerusalem aufgeladen: Wann kommt der verheißene Messias? Er muss doch endlich kommen, der Befreier aus der Macht erdrückender Verhältnisse, aus Unfreiheit, Elend und Not! Die Erwartung der Menschen war übergroß. Und nun richtet sich alle Hoffnung auf Jesus: „Hosianna – Gott, hilf doch!“ Das ist der inständige Schrei derer, die am Ende ihrer eigenen Möglichkeiten sind, die Erlösungshoffnung der kleinen Leute mit ihren täglichen Ohnmachtserfahrungen. Es ist viel eher ein Verzweiflungsschrei als triumphale Begeisterung.
Hier kann die Erzählung vom sanftmütigen Eselsreiter für uns Heutige eine Befreiungs- und Mutmach-Geschichte werden. In all unserer Sehnsucht nach gelingendem Leben werden auch wir so oft mit schmerzlichen Grenzen konfrontiert. In einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint, machen sich bei vielen Menschen Ängste breit. Vielleicht kann und will uns diese biblische Geschichte befreien: von unseren eigenen Allmachtsphantasien ebenso wie von depressiver Untergangsstimmung. Im Blick auf das Leben Jesu wird ein Ja zum Bruchstückhaften, zum Fragmentarischen leichter. Er, der selbst alle Tiefen menschlichen Lebens durchlitten hat, befreit uns zum Mut zu kleinen Schritten, zur entschlossenen Absage an alle Resignation und zum Ja zu uns selbst.
„There is a crack in everything, and that is how the light gets in“ (Es gibt einen Riss in allen Dingen, und das ist das Einfallstor für das Licht), so singt Leonard Cohen in seinem bekannten Lied „Anthem“. Wir sind eingeladen, diese leise Kunst des Lebens zu entdecken und einzuüben: Grenzen wahrnehmen und respektieren, das Unvollkommene, Bruchstückhafte und Rätselhafte des Lebens annehmen lernen. Sicherlich ist Jesus keiner, der unmittelbar und greifbar unsere alltäglichen Verhältnisse ändert. Stattdessen einer, der in unser Herz einziehen und uns Weite und Befreiung schenken will.
„Du kommst und machst mich groß“. So lässt sich tatsächlich die Erzählung von Jesu Einzug in Jerusalem in existenziellem Sinn deuten: Du machst mich groß, um dem Leben und dem Leiden standzuhalten. Groß, um immer wieder auf die Kraft der Liebe zu vertrauen und die Sehnsucht nach erfülltem Leben nie zu verlieren.